Ein Stück Grazer Baugeschichte

Wissen Sie eigentlich, wann Ihr Wohnhaus erbaut wurde? Oder wie der Grazer Hauptbahnhof vor der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg ausgesehen hat? Dank dem Projekt Grazwiki sind Informationen zur Grazer Baugeschichte nur wenige Klicks entfernt. Gründer Martin Brunner will damit nicht nur Veränderungen im Ortsbild sichtbar machen, sondern auch Bewusstsein für die Umgebung schaffen.

9. Juli 2010 – tonnenschwere Raupenbagger rollen auf ein Grundstück in der Adolf-Kolping-Gasse 14 im sechsten Grazer Bezirk Jakomini. Dort befindet sich ein historisches Anwesen, der Kastellhof. Die Geschichte des Hofes reicht weit zurück, so wuchs hier ab 1582 der Bischof von Triest und Laibach, Rainald Scarlichi auf. 1623 wurde der Ansitz von Jacob Castell erworben und an seinen Sohn Simon Castell vererbt. Ab Ende des 19. Jahrhunderts befand sich die – laut ARGUS Radlobby – erste und wichtigste Radfahrschule der Stadt in ebendiesem Gebäude. Die Durchfahrt des Hofes kommt zudem in einer Szene des österreichischen Films ,,Die unabsichtliche Entführung der Frau Elfriede Ott’’ aus dem Jahr 2010 vor. Doch diese kulturgeschichtlichen Ereignisse reichten nicht aus, um den Fortbestand des Kastellhofs zu sichern. Da sich das Gebäude knapp außerhalb einer Altstadt-Schutzzone befand, wurde es, trotz Protesten einer Bürgerinitiative, abgerissen.

Dieser Abbruch war unter anderem ein Grund für Martin Brunner, Systembetreuer an der Technischen Universität Graz, bauliche Veränderungen in der Stadt zu dokumentieren. Geschützte Gebäude wurden zwar auch vom Altstadt Graz Informationssystem (AGIS) erfasst, allerdings werden die Daten nicht aktualisiert und Gebäude, die sich nicht in den Altstadt-Schutzzonen befinden, finden oft keine Erwähnung. ,,In der Innenstadt stehen die Gebäude unter einem recht guten Schutz. Aber außerhalb passiert viel. Wenn da etwas abgerissen wird, so wie das Ortszentrum Waltendorf, das unter keinem Schutz steht, dann haben wir das wenigstens dokumentiert’’, meint Brunner. Damit solche Informationen aktuell gehalten werden und auch nicht geschützte Gebäude erfasst und öffentlich eingesehen werden können, gründete Brunner im Jahr 2010 die Website grazwiki.at. Dort finden sich mittlerweile unzählige Informationen und Fotos zu Bauten, jedes Gebäude, zu dem Informationen eingetragen wurden, ist mit einem Marker auf einer Karte markiert. Daten gibt es nicht nur zu bekannten Grazer Gebäuden wie dem Landeszeughaus oder dem Uhrturm, sondern auch zu längst verschwundenen Villen und Bauernhäusern. Anfangs wurden die Daten vom AGIS übernommen, später wurden auch eigene eingetragen. Peter Laukhardt, Sprecher der Sonderkommission (SOKO) Altstadt, die sich seit 2010 mit der Auflistung erhaltenswerter Bauten befasst, hat dabei mit Recherche und eigenem Fotomaterial einen wesentlichen Beitrag geleistet.

Über die Grazer Grenzen hinaus

Unterstützt und vorangetrieben wurde das Projekt durch eine Förderung von netidee, Österreichs größter Internet-Förderaktion. Ziel dieser Förderung war es, die Website auch für andere Städte verfügbar zu machen. So finden sich auf der interaktiven Karte unter anderem auch Einträge aus Wien, Linz und Salzburg. Viele dieser Daten stammen von wikilovesmonuments.at, einem Projekt zur Auflistung denkmalgeschützter Objekte in Österreich. ,,Im Prinzip finde ich es sinnvoll, wenn das Projekt über Graz hinausgeht, denn viele Gebäude, die man bei uns eintragen kann, haben keine Relevanz für die Wikipedia’’, sagt Brunner. ,,Es braucht aber irgendjemanden vor Ort, der da dahinter ist.’’ Jeder habe die Möglichkeit, das System kostenlos zu nutzen und Informationen einzutragen, der Kreis der Leute, die aktiv beitragen, sei laut Brunner aber überschaubar. Schließlich erfordere das Ganze oft Hintergrundwissen oder den Besitz von altem Fotomaterial. ,,Es ist eben nicht wie bei der Wikipedia, wo jeder niederschwellig einen Text editiert. Aber wenn gerade etwas passiert und die Leute die Gebäude nicht beschreiben können, dann hilft es uns auch schon, wenn sie Fotos hochladen’’, meint Brunner. Im Zuge der Öffnung des Systems für andere Städte entstand die Domain baugeschichte.at, die auf die gleichen Daten wie grazwiki.at zurückgreift, genau wie die Domains grazerbe.at und housetrails.org. Mithilfe der Förderung wurde auch die Karte verbessert, ebenso konnte eine App für Android, iOS und Blackberry entwickelt werden. Mit einem Tipp kann der Nutzer Fotos und Informationen zum eingetragenen Gebäude abrufen.

Die GrazWiki-App ermöglicht das mobile Abrufen aller Daten – Foto: Julian Strassegger

Mehr als nur sieben Sünden

Neben dem bereits genannten Kastellhof gab es in den letzten Jahren noch viele weitere Beispiele von ,,schwerwiegenden nachteiligen Eingriffen in die Bausubstanz der Stadt’’, die auf grazwiki.at unter ,,Bausünden nach SOKO Altstadt’’ angeführt werden. So wäre laut Peter Laukhardt der Denkmalschutz des ehemaligen Mustralhofes, in dem bis ins 18. Jahrhundert Leder hergestellt wurde, aus wirtschaftlichen Gründen aufgehoben worden. Heute steht ein Fabrikgebäude des steirischen Automobilzulieferers AVL an der Stelle des alten Gebäudes.

Abriss des Mustralhofes – Foto: Screenshot (grazwiki.at)

Ein weiteres Beispiel ist der Abbruch der im Jahr 1844 errichteten Feldzeugamtskaserne, die bis 2010 unter Denkmalschutz stand. Auch hier wurde der Denkmalschutz aufgehoben, dort wo einst die ehemalige Kaserne stand, die laut Laukhardt schon lange als Miethaus verwendet wurde, stehen, trotz Protesten der Anrainer, nun große Wohnungsbauten. Ein 1785 erbautes Gebäude in der Innenstadt, das in der letzten Zeit vor dem Abbruch unter dem Namen ,,Kommodhaus’’ bekannt war, wurde, obwohl es unter Denkmalschutz stand, im Jahr 2003 wegen Einsturzgefahr dem Erdboden gleichgemacht. Eine Sanierung des Gebäudes wurde wegen des hohen finanziellen Aufwandes ausgeschlossen.

Die Dokumentation solcher Fälle kann weitere nachteilige Eingriffe in die Bausubstanz der Stadt zwar nicht verhindern, allerdings dafür sorgen, dass sich mehr Menschen Gedanken über ihre Umgebung machen und verschwundene Bauten nicht in Vergessenheit geraten.

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