Demokratie bedeutet die Herrschaft des Volkes, wortwörtlich. Es bedeutet, die Zügel der gesellschaftspolitischen Geschehnisse liegen in den Händen der Bevölkerung, im übertragenen Sinne. Keine Diktatur der Mehrheit, sondern ein kritischer Diskurs aller Öffentlichkeiten. Ein vielversprechendes Ideal, dem das System aber nicht gerecht wird, wenn sich das Volk mit der Rolle als gelenkte Masse zufrieden gibt. Die AktivistInnen von Attac Graz geben sich nicht zufrieden. Politische Bildung, intellektuelle Debatten, aktive Demonstration – die feierlich zelebrierte Herrschaft des Volkes ist der wesentlichste Bestandteil der NGO.
„Wer in der Demokratie schläft, erwacht in der Diktatur“, sagt René Schuster und verwendet damit eines der ausdrucksstärksten Zitate im Hinblick auf die demokratische Pflicht der Bevölkerung. Im Gespräch mit dem 46-jährigen hört man von seiner kritischen Weltanschauung, spürt jedoch niemals Hoffnungslosigkeit. Er gehörte wohl immer zu denen, die nicht so leicht zufrieden zu stellen waren. Zu der Sorte Mensch, die nicht müde werden zu fragen, warum etwas passiert und wie. Die sich darum sorgen, was kommen mag. Einer von vielen, die das Gefühl haben, in der Demokratie zu schlafen, aber vom Traum getrieben sind, aufzuwachen. 2008 stieß Schuster auf die Organisation Attac. Eine nichtstaatliche, international wirkende Verbindung aus gleichgesinnten AktivistInnen, die mit ihrer Motivation die demokratische Welt aufwecken möchten. So informieren sie über wirtschaftliche Zusammenhänge, entwickeln politische Forderungen, vernetzten sich mit sozialen Bewegungen auf der ganzen Welt und fördern Alternativen auf lokaler Ebene. René Schuster ist seither Mitglied der Grazer Regionalgruppe von Attac. Gemeinsam engagieren sie sich kreativ, intellektuell und aktionistisch.
Das Volk lenkt den Staat – nicht?
Dem Volk, der – zumindest theoretischen – Herrschaft des Staates, fehlt es an politischer Praxis. Seine Kompetenz, demokratische Entwicklungen mitzugestalten, wird oft von der Komplexität wirtschaftlicher und politischer Zusammenhänge eingeschränkt. Die Europäische Union, die österreichische Verfassung, der globale Handel, all das unterliegt komplizierten Regeln, die für den durchschnittlichen Bürger schwer zu durchschauen sind. Wer weiß schon tatsächlich, was die Tobin-Steuer ist und warum sie den Zusammenbruch der Börsen und eine weltweite Wirtschaftskrise verhindern könnte? Wer durchblickt schon die Folgen der subventionierten Landwirtschaft der Europapolitik für die afrikanischen Staaten? Die Leute haben vielleicht im Gefühl, dass die großen Konzerne langsam mächtiger als einzelne Staaten werden, doch das Prinzip eines Schiedsgerichts kann kaum jemand erklären. Solange sie nicht in den politischen Diskurs involviert sind und angeregt werden, über politische Themen nachzudenken , werden sie die Verantwortung über solche Fragen an politische Experten abgeben und sich schlafen legen. Das gesellschaftspolitische Schiff lenkt jemand anderes. Leider funktioniert Demokratie so nicht. Auf diese Art treibt sie in den falschen Hafen.
Aktivismus schafft Aufmerksamkeit
Deshalb gibt es Organisationen wie Attac. Freiwillige, die sich sonntagnachmittags auf die Straße stellen, sich unter die Passanten würfeln mit bunten Demo-Plakaten und Broschüren, um ihnen die Vor- und Nachteile des TTIP Abkommens zu erläutern. Deshalb organisiert die Grazer Gruppe „Attac Graz“ Vorträge und Lehrgänge, wo namhafte Wirtschaftsexperten die Teilnehmer durch die Verwirrungen aktueller Themen führen, ihnen „aufdeutschen“, was für sie zuvor noch ein spanisches Dorf war. Eine breite Menge zu erreichen, ist dennoch schwierig, erklärt René Schuster. „Es gibt stets offene, interessierte Menschen. Das sind dann jene, die von selbst zu uns kommen und an Diskussionen teilnehmen. Und dann gibt es andere Öffentlichkeiten, solche, in deren individuellen Leben bisher kein Raum für politische Praxis war.“
Kooperationen helfen
Ein Hindernis für die Arbeit der Organisation, aber kein unüberwindbares. „Man muss eben kreativ sein und bereit für Neues“ sagt Schuster in Anspielung auf ein Projekt, das 2012 in Kooperation mit Interact, einer Theaterinitiative, stattfand. Schuster und drei weitere Mitglieder von Attac Graz stellten sich damals als lebendiges Bildertheater auf die Straße. Jeder von ihnen verkörperte eine Gesellschaftsschicht, das Gesamtbild verdeutlichte sozial ökonomische Missstände. Das Motto: „ES REICHT – FÜR ALLE! Den Kuchen neu verteilen.“ Passanten konnten das dargestellte Bild verändern, reorganisieren, umstellen und so interaktiv nach einem Weg aus der Krise suchen. Damit, meint Schuster, habe man ganz andere Gruppen als sonst angesprochen und mit einer ökonomischen Sinnfrage vertraut gemacht. Die aktivistische Intervention im Alltag, fängt die Leute oft umso wirkungsvoller ein. Sie verführt sie unerwartet zum Nachdenken und weckt sie auf.
Man sollte der Öffentlichkeit vielleicht mehr zutrauen, als man tut. Ihr Wissensdurst ist größer als sich auf den ersten Blick vermuten lässt. Es braucht nur Möglichkeiten, ihn zu stillen. Wenn sie geboten werden, von Attac Graz etwa, dann sind die Durstigen da. Am 07. November 2017 zum Beispiel ist der Saal des Quartiers Lech im ersten Stock voller interessierter Menschen. Der Anlass: Dr. Boniface Mabanza hält einen Vortrag zum Thema „Neue Partnerschaft oder Fortsetzung kolonialer Abhängigkeit“. Er erklärt, gestützt auf seinem breiten Hintergrundwissen, die wirtschaftlichen Zusammenhänge zwischen dem europäischem und dem afrikanischen Kontinent. Er macht historische und aktuelle Abkommen verständlich, beschreibt die Auswirkungen der Globalisierung und verschafft dem Zuhörer einen nüchternen Einblick, unabhängig von seinem bereits vorhandenen Wissen. Man spürt die gespannte Atmosphäre im Saal, ein ehrliches Interesse und die rege Diskussionsbereitschaft der Anwesenden. Die Leute sind fähig sich zu empören. Sie haben Fragen, sie sind durstig nach Wissen. Sie schlafen nicht. Die Falten auf ihren Stirnen zeugen von den kritischen Gedanken dahinter. Ein gutes Zeichen, für eine demokratische Gesellschaft. Und eine Bestätigung für die essentielle Bedeutung politischer Bildung im öffentlichen Raum. Die Gesellschaft hat Fragen, wir brauchen jemanden, der sie uns beantworten kann. Wir brauchen Organisationen, wie Attac Graz. Weil sie uns Antworten zu Verfügung stellen. Weil sie Raum für politische Praxis schaffen. Weil sie uns nicht schlafen lassen.